Einleitung: Werner Portmann, Siegbert Wolf: ›Ja, ich kämpfte‹
Auszug aus: Werner Portmann, Siegbert Wolf: »Ja, ich kämpfte«. Von Revolutionsträumen, ›Luftmenschen‹ und Kindern des Schtetls. Biographien radikaler Jüdinnen und Juden.
Einleitung
I.
Das kommende Europa nach den ›Osterweiterungen‹ wird keine neue Kulturlandschaft erschließen. Das kommende Europa kann – im besten Fall – nur das werden, was es einst am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war: ein lebendiger Kulturraum verschiedenster kreativer und innovativer Strömungen. Das Wissen über das einst Vorhandene fördert das Verstehen des Heute, zeigt die anzustrebenden Ziele von morgen an und erörtert die damit verbundenen Gefahren.
Zwei der wichtigsten Pfeiler dieser einstigen Kulturlandschaft sind unwiederbringlich verloren gegangen und fehlen dem neuen Europa schmerzlich. Diese beiden verlorenen Pfeiler sind die jüdische Kultur Osteuropas und des so genannten deutschsprachigen ›Mitteleuropas‹. Vor allem die Geschichte des Judentums im deutschsprachigen ›Mitteleuropa‹ erinnert nicht nur an die vielen möglichen Gefahren, die ihr Verschwinden einst bewirkte, sondern zeichnet auch Bilder einer damals lebendigen Kultur; einer Lebenswelt, die von einer diskriminierten und stigmatisierten traditionellen jüdischen Kultur erzählt, die, nachdem sie von ihrem auferlegten Ghettodasein befreit war, sich mit den Ideen der Moderne verband und einen erfrischenden Wind in Europa erzeugte, der da und dort zu radikalen Stürmen anhob.
Das deutschsprachige ›Mitteleuropa‹ war damals ein kulturelles Zentrum und wird mit Namen wie Franz Kafka, Walter Benjamin, Sigmund Freud, Hannah Arendt, Martin Buber, Rose Ausländer oder Albert Einstein verbunden – Namen, die bis heute ihre Bedeutung nicht verloren haben. Mit dem Wüten des Nationalsozialismus und der damit verbundenen Shoa wurde diese Kultur unwiederbringlich zerstört. Der »erloschene Stern«, wie Michael Löwy das ›mitteleuropäische‹ Judentum bezeichnet1, erschließt sich heute nur noch über Werke und Biographien der bekanntesten jüdischen DichterInnen und DenkerInnen; als Ideenwelt ist es aber kaum mehr im Bewusstsein. So sind seine libertären, zum radikalen Denken – im wörtlichen Sinn verstanden, als auf den Wurzeln gesellschaftlichen Lebens gründend – und Handeln neigenden Richtungen, mit ihren als ›utopisch‹ abqualifizierten, weit über unsere Zeit hinaus reichenden Gedanken, außer in der Rezeption der Werke Walter Benjamins oder Franz Kafkas, fast vergessen. In gleicher Weise gilt dies für das Judentum Osteuropas.
Dass dieses Denken nicht nur ein aufklärerisches, theoretisches oder messianisches war, sondern sich in verschiedenen Lebenspraxen zu verwirklichen suchte, ist kaum thematisiert oder dokumentiert worden. Denn viele ProtagonistInnen besonders des osteuropäischen Judentums kamen aus einfachen Verhältnissen, waren ArbeiterInnen oder Handwerker und hinterließen wenig eigene historische Spuren. Viele von ihnen wurden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, weil ihnen Pogrome drohten oder weil das »Brot der Misere« sie ernährte, wie Nathan Weinstock das Los der jüdischen ArbeiterInnen in Europa bis zum Ersten Weltkrieg in seinem gleichnamigen Buch beschreibt.2 Ihre Lebensläufe und ihr Wirken sind in den seltensten Fällen bezeugt. Ihr praktisches Denken und Handeln, das aus den selben Quellen sich speiste, die Franz Kafka oder Walter Benjamin versorgten, sind fast vergessen. Ihr Wirken im deutschsprachigen Raum, z.B. in der ArbeiterInnenbewegung, harrt längst der Aufarbeitung.
Dieses Buch soll ein Anfang dazu sein, diese vergessene Kultur und ihr Wirken, vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz, der Geschichtslosigkeit zu entreißen. Anhand ausgewählter Biographien radikaler Juden und Jüdinnen werden Einblicke gewährt in diese Zeit des Aufbruchs, um damit die jüdische Kultur Mittel- und Osteuropas weiter erschließen zu können. Hauptanliegen dieser Publikation ist es, die hier Porträtierten dem Vergessen zu entreißen. Zugleich lässt sich die produktive Synthese von Judentum und Anarchismus nachzeichnen, nicht zuletzt in einer säkularisierten Form des mosaischen Gleichheits-, Gerechtigkeits- und Nächstenliebepostulats.
Die Biographien handeln von gut Bekannten und Dokumentierten wie Carl Einstein, wenig Berühmten wie Milly Witkop-Rocker sowie fast Vergessenen wie Cilla Itschner-Stamm, Robert Bodanzky, Isak Aufseher und Jack Bilbo. Allesamt ›radikale Existenzen‹, die in der Schweiz, in Österreich und Deutschland bzw. als EmigrantInnen in England und den USA ihr Hauptwirkungsfeld hatten. Von den in diesem Buch Porträtierten sind drei in Osteuropa geboren: Isak Aufseher (Kuty/Galizien), Cilla Itschner-Stamm (Glimiany/Galizien) und Milly Witkop-Rocker (Slotopol/Ukraine). Hugo Baruch/Jack Bilbo (Berlin), Robert Bodanzky (Wien) und Carl Einstein (Neuwied) zählen zum ›mitteleuropäischen‹ Judentum. Das jüdische Umfeld hat die hier Porträtierten und ihr Werk unterschiedlich geprägt. Mit den ProtagonistInnen sind denn auch deren verschiedenen Lebenswelten3 verschwunden, z.B. der jüdische Sozialismus/Anarchismus in Galizien, über die sich heute kaum eine/r noch Vorstellungen machen kann. Die Geschichte der anarchistischen jüdischen ArbeiterInnenbewegung etwa in London, New York und Osteuropa ist wenig bekannt, zugleich aber für die Geschichte des Anarchismus von immenser Bedeutung. Die Arbeit versucht, neben der Darstellung der jüdischen Wurzeln der jeweiligen ProtagonistInnen, auch aufzuzeigen, wie sich das Judentum auf ihre Überzeugungen und ihr Handeln auswirkte und wie diese Ideen in andere Lebenswelten einflossen.
II.
Die Autoren sind sich im klaren darüber, dass der Begriff ›Mitteleuropa‹ durchaus ambivalent ist: einerseits ein deutschnationaler, völkischer Begriff, dem expansive Tendenzen unterliegen und dem zugleich eine geostrategische Bedeutung zukommt.4 Andererseits gilt es ›Mitteleuropa‹ zu deuten als Kulturraum, als Raumstruktur, die sich mitnichten trennen lässt vom mediterranen, römisch-griechischen, angelsächsischen oder osteuropäischen Kulturraum. Geographisch umfasst ›Mitteleuropa‹ Deutschland, Österreich, Ungarn, Böhmen, Mähren, Tschechien, die Slowakei und die Schweiz.5
Aus innerjüdischer Perspektive erheben sich gewisse Probleme in der Abgrenzung zwischen Ost-, West- und Mitteleuropa, denn die Grenzen der Kulturräume sind mit den staatlichen Grenzen vielfach keineswegs deckungsgleich. Die häufig erst im 19. Jahrhundert entstandenen europäischen Nationalstaaten geben »für weite Teile der Geschichte der Juden in Europa keinen sinnvollen Analyserahmen«6 ab. Für Michael Löwy impliziert ›Mitteleuropa‹ Deutschland und Österreich-Ungarn im Zeitraum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933.7 Viele AutorInnen benutzen den Begriff ›Mitteleuropa‹ nicht, sondern sprechen vom ost- bzw. westeuropäischen Judentum. Sie teilen das deutschsprachige Judentum ganz selbstverständlich demjenigen Westeuropas zu.
III.
Ebenso notwendig erscheint es, die Begriffe ›Ost‹- und ›Westjuden‹ einer inhaltlichen Eingrenzung zu unterziehen. Das europäische Judentum im 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bis zur Shoa unterschied sich nicht nur hinsichtlich geographischer Merkmale, sondern differenzierte sich vor allem aufgrund spezifischer kultureller und historischer Entwicklungen.
›Ostjude‹ meint – und die Autoren sind sich bewusst, dass dieser Begriff auch als Klischee antisemitischer Ressentiments diente, halten aber dennoch an ihm fest, weil er »aus dem innerjüdischen Sprachgebrauch heraus«8 entstanden ist und erstmals vom Wiener Schriftsteller Nathan Birnbaum (1864-1937) (Pseudonym: Mathias Acher) benutzt wurde9 – mehr noch als eine geographische Klassifizierung, zunächst eine lebensweltliche Einordnung. Diese lässt sich sprachlich in der Bewahrung des Jiddischen, religiös in der Halacha, also einem Leben nach dem Religionsgesetz, und sozial in der Zugehörigkeit zur unteren Mittel- oder Unterschicht festmachen. Hinzu kommen eine hohe Geburtenrate und eine geringe Zahl interkonfessioneller Eheschließungen. Insgesamt meint ›Ostjude‹ die Bewahrung einer »starke(n) jüdische(n) Identität.«10
Die Lebenswelt der ›Westjuden‹ vor allem in Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien und der Schweiz hatte sich dem gegenüber Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend von seinen religiös-traditionellen Wurzeln gelöst und sich stattdessen an die nichtjüdische Bevölkerungsmehrheit akkulturiert bzw. assimiliert. Dies beweist sich vor allem an der strikten Ablehnung des Jiddischen, das nur noch als Relikt vergangener Zeiten empfunden wurde und als hinderlich für Emanzipation und Gleichberechtigung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft galt. Der Affront gegenüber der jiddischen Sprache ging einher mit einer Abkehr von der traditionellen Lebensweise und Religionspraxis. Die westeuropäischen jüdischen Gemeinden lebten Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in Städten, waren weitgehend in die Mehrheitsgesellschaften integriert, deutlich urbanisiert und gehörten zum aufstiegswilligen bzw. aufgestiegenen, zumeist (gehobenen) mittelständischen Stadtbürgertum. Dies schlug sich, im Gegensatz zu den Jüdinnen und Juden Osteuropas, in einer geringeren Geburtenrate und in häufigerer Eheschließung mit Nichtjuden/-jüdinnen nieder.11
Auch in der Schweiz erfolgte im Zeitalter der Industrialisierung und der damit einhergehenden Emanzipation seit 1866 eine Abwanderung der Juden und Jüdinnen vom Land in die (Groß-)Städte, die sich rascher urbanisierten als Nichtjuden.12 1910 lebten in den drei Zentren jüdischen Lebens der eidgenössischen Republik – Zürich, Basel und Genf – bereits über die Hälfte (55%) der jüdischen Gemeinschaft.13 In der Eidgenossenschaft veränderte sich damals die bislang agrarisch geprägte Berufsstruktur (Vieh- und Pferdehändler, Textilhandel, Hausierer) der jüdischen Bevölkerung hin zu einer »zunehmend urban geprägte(n)«.14 Bevorzugt wurden von Schweizer Juden der Handel (Textilien, Seidenherstellung, Konfektions- und Stickereiengewerbe, Warenhäuser), kaufmännische Tätigkeiten (z. B. in der Uhrenindustrie) sowie die freien Berufe (Ärzte, Rechtsanwälte, Universitätsdozenten).
Festzuhalten bleibt, dass eine Definition des ›Ost‹- bzw. ›Westjuden‹ sich geographisch nicht maßstabsgerecht auf Ost- bzw. Westeuropa anwenden lässt, sondern, dass wir »nichtakkulturierte Ghettojuden«15 im östlichen Teil der Tschechoslowakei, in Polen und Litauen vorfinden, während wir ›Westjuden‹ auch in Ostmitteleuropa nachweisen können, etwa in Böhmen und Mähren, in Ungarn und auch in Lettland. Keineswegs alle Jüdinnen und Juden Ostmittel- und Osteuropas sind daher automatisch als ›Ostjuden‹ zu bezeichnen. Auch dies gilt es hinsichtlich der hier vorliegenden Porträts zu beachten.
IV.
Zwischen 1880 und 1914 verließen annähernd drei Millionen Jüdinnen und Juden Osteuropa – mehr als zwei Millionen von ihnen kamen durch Deutschland, nur der geringere Teil ließ sich hier dauerhaft nieder.16 Deutschland war vielfach nur Durchgangsland im damaligen jüdischen Migrationsprozess.17 Als bevorzugte Exilziele galten die USA, England, Frankreich, Südafrika, Kanada, Lateinamerika (Argentinien) und Palästina. Die dorthin emigrierten Juden und Jüdinnen konzentrierten sich »in den wichtigsten städtischen Zentren«18 und bildeten, »besonders akzentuiert in den westlichen Staaten Europas«19 ihre ›Schtetl‹: Zürich (»Schtetl an der Sihl«), Paris (»Pletzl« im Marais), London (»East End«), aber auch in Wien (»Leopoldstadt«) und Berlin (»Scheunenviertel«).
Von den 20.000 Juden in der Schweiz im Jahr 1914 gehörten ein Viertel bis ein Drittel zu den osteuropäischen Zuwanderern.20 Für ein Studium an einer der helvetischen Universitäten entschieden sich seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts viele osteuropäische jüdische StudentInnen (Rosa Luxemburg, Chaim Weizmann, Wladimir Jabotinsky u.a. – siehe auch den Beitrag über Cilla Itschner-Stamm). Besonders für die zionistische Bewegung stellte die neutrale Schweiz sowohl ein bevorzugtes Land zur Veranstaltung ihrer zahlreichen Zionistenkongresse seit 1897 dar, als auch »ein Modell für ihren idealen Staat im Lande Israel.«21 Die sich dauerhaft in der Schweiz niedergelassenen Jüdinnen und Juden aus Osteuropa verspürten, wie anderswo auch, nicht nur die judeophoben Ressentiments der nichtjüdischen Dominanzkultur, sondern mussten sich ebenso den Vorbehalten seitens der eingesessenen Westjuden stellen, die nur langsam abgebaut werden konnten.
Zugleich korrespondierte die massenhafte Emigration aus Osteuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Reisen deutschsprachiger Juden nach Polen. Während handwerklich-proletarisierte – das jüdische Proletariat war vor allem ein Handwerkerproletariat – und vom Kleinhandel22 lebende, pauperisierte Menschen nach Westen strebten, zog es assimilierte jüdische Intellektuelle, Philosophen und Schriftsteller (u.a. Franz Rosenzweig, Theodor Lessing, Martin Buber, Arnold Zweig und Alfred Döblin) damals (wieder) in den Osten, vor allem nach Polen: »So wird Polen in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Art ›heiliges Land‹, Wallfahrtsort einer Elite gebildeter Juden, die vor allem zur Zeit der Assimilierungskrise vom Ende des 19. Jahrhunderts begannen, den Weg nach Osten einzuschlagen.«23 Sie differenzierten allerdings das jüdische Leben dort nicht, sondern betrachteten es als homogen. Auf der Suche nach neuen ›Ufern‹, sprich: nach einer authentischen jüdischen Kultur, richtete die Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommende kulturzionistische Bewegung ebenfalls ihren Blick gegen Osten. So kamen vor dem Ersten Weltkrieg die Schlagworte ›Ostjude‹ und ›Westjude‹ auf – Konstruktionen von Schriftstellern und Intellektuellen, die dem assimiliert-jüdischen Westeuropa zuzuordnen sind. Während eine Mehrheit der westlichen Juden und Jüdinnen auf ihre immigrierten ›Brüder‹ und ›Schwestern‹ aus Osteuropa, obwohl diese sich in den ›Aufnahmeländern‹ vielfach eingliederten und akkulturierten, eher mit Verachtung herabsah24, was sich etwa in einer vehementen Ablehnung des Jiddischen äußerte, verhielt sich eine kleine intellektuelle Minderheit gegenteilig: sie verurteilte die ›Westjuden‹ als ›degeneriert‹ und deutete die osteuropäischen Schtetl-Juden zu kulturellen ›Heilsbringern‹ um. In ihrer Faszination von der jiddischen Sprache und einem selbstverständlich gelebten Judentum erhofften sich vor allem Teile der postassimilatorischen jüdischen Jugend im Westen eine Lösung ihrer Identitätsprobleme. Gewissermaßen als Gegenentwurf zur Assimilation und zur bürgerlich-jüdischen Lebenswelt25 idealisierten sie das Ostjudentum und überhöhten es zugleich. Zuzustimmen ist daher Michael Löwy darin, dass das jüdisch-religiöse Erbe zu Beginn des 20. Jahrhunderts romantisch verklärt wurde, in dem eher die Bestandteile des Nicht-Institutionellen, antibürgerlichen, mystischen, Aufbruch verheißenden und Grenzen überschreitenden hervorgehoben wurden.26
Die aus der »Geistigkeit«27 der osteuropäischen Juden und Jüdinnen erwünschte Erneuerung des gesamten Judentums erwies sich rückblickend als Illusion, denn die angestrebte Versöhnung von Ost und West blieb, wie sich schon bald herausstellen sollte, aus. Die Shoa des verbrecherischen nationalsozialistischen Deutschlands löschte das osteuropäische Judentum als Kultur- und Lebensform weitgehend aus.
V.
Im 19. Jahrhundert fanden in Osteuropa tiefgreifende, gesellschaftliche und sozioökonomische Umwälzungen statt, die weitreichende Folgen für jüdisches Leben mit sich führten: Veränderungen der Agrarstruktur, Beginn der Industrialisierung, wandelnde Herrschaftsverhältnisse, folgenreiche soziale Transformationen, neue geistige Einflüsse, zunehmende materielle Verelendung, Abwanderung in die Großstädte und Emigration aufgrund der zunehmenden ökonomischen Konkurrenz, die zusätzlich noch die Konflikte mit der nichtjüdischen Bevölkerung verschärften.28
Wichtig zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass die sich damals in Osteuropa entwickelnde Industrie vor allem eine Protoindustrie war, spezialisiert auf die Gewinnung von Rohstoffen wie z.B. Holz und Erdöl. Kaum entwickelt dagegen war die Weiterverarbeitung von Rohstoffen, wird von der Lebensmittelherstellung und von kleineren Textilunternehmen abgesehen. Ein rasanter ökonomischer Wandel führte dazu, dass, etwa hinsichtlich des Erdöls, eine klassische Dependenz zwischen dem Rohstoff liefernden Osten und dem verarbeiteten Westen entstand.29
Das osteuropäische Judentum lebte damals in großer materieller Armut, meist ohne eigenes Land, das zu bearbeiten, sein Auskommen garantiert hätte. Vielen im Handel, in der Heimindustrie, den Handwerksstätten und der Landwirtschaft tätigen Juden und Jüdinnen blieb aufgrund des grundlegenden Wandels der gesamten sozioökonomischen Lebenswelt in Osteuropa (siehe hierzu vor allem die Beiträge über Isak Aufseher, Cilla Itschner-Stamm und Milly Witkop im vorliegenden Band) häufig nur ihre Mobilität und Flexibilität in der Emigration. Die verbreitete judeophobe Einstellung unter Fabrikbesitzern bedeutete vielfach, dass sie absichtlich keine jüdischen ArbeiterInnen einstellten, dies allerdings vordergründig mit den Sabbatbräuchen rechtfertigten. Es zeigte sich, »dass die jüdischen Arbeiter vorwiegend in nicht- oder nur gering mechanisierten Fabriken von Juden beschäftigt wurden. Die deutschen Unternehmer in Lodz etwa holten sich lieber Facharbeiter aus Deutschland. […] Gerade in mechanisierten Betrieben waren die Unternehmer nicht gewillt, die Maschinen am Sabbat abzustellen. Daran wird es auch gelegen haben, dass Juden zwar im Durchschnitt größere Betriebe besaßen als Nichtjuden, diese zugleich aber weniger mechanisiert, also unmoderner waren und folglich eine niedrigere Produktivität aufwiesen.«30
Die erzwungene berufliche und soziale Mobilität führte zum Rückgang religiöser Traditionen im Alltagsleben und damit unweigerlich zur Säkularisierung. Orthodoxie und Chassidismus versuchten dieser Entwicklung entgegenzutreten. Insgesamt bedeutete die Krise der traditionellen jüdischen Lebenswelt auch in Osteuropa eine Abkehr von der Religion, die mit der kritischen Hinterfragung der rabbinischen Lehre und einer Hinwendung zum Sozialismus und Zionismus einherging. Vor allem in den Großstädten lässt sich als Reaktion auf die Veränderungen der jüdischen Gemeinschaft nicht zuletzt infolge der Industrialisierung (und dem Ausbau des Eisenbahnsystems) eine gewisse Säkularisierung etwa in Hinblick auf die Aneignung weltlicher Bildung feststellen. Die in den ›Schtetl‹ lebenden Juden und Jüdinnen passten sich aufgrund des weitgehend intakten Gemeindelebens länger an ihre traditionelle religiöse Tradition an.31 Grundlegende Transformationen ergaben sich zumeist erst infolge der Abwanderung in die Großstädte bzw. aufgrund der Emigration in den Westen. Die Pauperisierung jüdischer (Klein-)Händler zwang deren Familien an den Einkünften mitzuwirken, wodurch die ökonomische Bedeutung der Frauen, denen seit jeher im Judentum ein bedeutender Beitrag zum finanziellen Unterhalt zufiel, noch weiter zunahm.
Die Modernisierung, sprich: Kapitalisierung des jüdischen Handels, vernichtete die wirtschaftliche Existenz zahlreicher KleinhändlerInnen mit der Folge hoher Binnenwanderung und Auswanderung in den Westen.
Zugleich führte der vielschichtige, sozioökonomische Umbruch zur Identitätskrise und zur verstärkten Neuorientierung, besonders unter jungen Juden und Jüdinnen. Da sich die Assimilation, z.B. in Galizien, aufgrund des wachsenden Antisemitismus der polnischen nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft als unrealistisch erwies, boten der Zionismus und die vom »Bund«32 geforderte national-kulturelle Autonomie seit Ende des 19. Jahrhunderts konkrete Alternativen. Insgesamt finden wir somit als Antwort auf den gravierenden sozioökonomischen Umbruch in Osteuropa im 19. Jahrhundert eine zweifache Perspektive: Den Versuch, dem Wandel durch Kontinuität zu begegnen sowie den Bruch, also eine Hinwendung zum Zionismus, die Herausbildung eines jüdischen Sozialismus bzw. die Mitwirkung in der sich Ende des 19. Jahrhunderts entwickelnden ArbeiterInnenbewegung – wie etwa bei Milly Witkop, Cilla Itschner-Stamm und Isak Aufseher.
VI.
Die jüdischen Wirtschaftsverhältnisse im Westen entwickelten sich Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Vorzeichen der erzwungenen Beschränkung der Juden auf Handelsberufe. Während der Emanzipation nahmen die schmählichen Auswirkungen dieser wirtschaftlichen Diskriminierung nur langsam ab, während die freien – intellektuellen und künstlerischen – Berufe und das industrielle Unternehmertum (z.B. die Erfolgsgeschichte der 1887 gegründeten Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft (AEG), »der größte von einem Juden geschaffene Konzern«33), verstärkt gewählt wurden. Die im Handelssektor tätigen Juden und Jüdinnen betrieben Produkten- und Warenhandel, vor allem mit kleinen, zumeist in Familienbesitz geführten Einzelhandelsgeschäften. Das Anwachsen der Konsumgüterindustrie, aufgrund der rasch expandierenden Großstädte, bot ihnen ein gesichertes Auskommen. Hinzu kam der Textil-, Leder- und Schuhhandel sowie das florierende Geschäft mit Nahrungs- und Genussmitteln. Für den Großhandel boten sich die neu geschaffenen Warenhäuser an, die zuerst in den USA, in England und Frankreich eingeführt worden waren, und in Deutschland, »von jüdischen Familien«34 ins Land gebracht, seit den 1890er Jahren Popularität erlangten. Auch im Metall- und Schrotthandel blieben Juden führend aktiv. Dagegen verloren jüdische Privatbanken gegenüber Aktienbanken, die über mehr Kapital verfügten, zunehmend an Bedeutung.
Infolge der massiven Zuwanderung osteuropäischer Jüdinnen und Juden nahm die Zahl jüdischer Beschäftigter in Gewerbe und Industrie deutlich zu. Fast zwei Drittel davon waren Handwerker, vor allem Schneider, Metzger, Schuhmacher, Bäcker und Sattler. In der Konfektionsindustrie arbeiteten Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland vor allem Frauen und jüdische ImmigrantInnen. Eine ähnliche ökonomische Entwicklung lässt sich für diese Zeit in Österreich feststellen. Insgesamt ist festzuhalten, dass sich die Berufsstruktur der Juden im Kaiserreich »relativ wenig veränderte, wenn auch eine zunehmende Tendenz zu akademischen Berufen und eine wachsende Frauenerwerbstätigkeit zu erkennen ist. Das überwiegende Festhalten am Handel bei leichter Zunahme der Erwerbstätigkeit in Gewerbe und Industrie ermöglichte den Juden im Zeitalter der wachsenden Konsumgüterproduktion ihren bisher größten wirtschaftlichen Erfolg. Dieser zeigte sich in einem überdurchschnittlichen Steueraufkommen und in der Zugehörigkeit von etwa zwei Dritteln der Juden zum Bürgertum. Auf der anderen Seite wurde dieses relativ homogene bürgerliche Sozialprofil der deutschen Juden durch die Einwanderung ärmerer Juden aus Osteuropa verändert, was zur stärkeren Ausprägung einer jüdischen Klassenstruktur führte.«35
Die in Westeuropa (Frankreich, England, Deutschland, Österreich-Ungarn, Schweiz) lebenden Jüdinnen und Juden sahen, aufgrund ihrer bereits weit fortgeschrittenen Assimilation in der Diaspora, bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 im Zionismus und der Auswanderung nach Erez Israel kaum eine Alternative. Die Mehrheit der jüdischen Diasporagemeinden in Westeuropa hatte sich am Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts bereits weit von ihren jüdischen Tradition entfernt, in der viele Jüdinnen und Juden zu diesem Zeitpunkt nur noch eine weit weggerückte, fremde Welt erblickten. Die Mehrheit versuchte sich in der Diaspora anzugleichen, was zumeist auch mit großem Erfolg gelang, und fühlte sich schon bald mehr als Franzosen, Engländer, Deutsche, Österreicher und Schweizer denn als Juden.
VII.
Das vorliegende Buch versucht, Judentum und Anarchismus im deutschsprachigen Raum gemeinsam zu beschreiben. Anhand ausgewählter Porträts jüdischer Libertärer soll der Frage nachgegangen werden, welchen Anteil jüdische AnarchistInnen an der sozialistischen ArbeiterInnenbewegung hatten. Denn die große Zahl jüdischer AnarchistInnen in der europäischen und amerikanischen ArbeiterInnenbewegung im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert ist zweifellos von historischem Interesse für beide Seiten – für Juden/Jüdinnen und AnarchistInnen.36 Bis heute liegt keine Gesamtstudie dieses Verhältnisses zweier augenscheinlich unterschiedlicher Traditionen vor.37
Auf den ersten Blick scheint Judentum und Anarchismus, jüdischer Messianismus und libertäres Denken wenig miteinander zu verbinden: einerseits eine Bevölkerungsgruppe mit ihrer messianischen, traditionellen und rituellen Religiosität, andererseits eine subversive Idee und sozialrevolutionäre Lebenshaltung, im allgemeinen atheistisch und materialistisch. Dass bei vielem Trennenden auch unübersehbare Gemeinsamkeiten bestehen, zeigt eindrucksvoll die enge Verbindung zwischen jüdischem Messianismus und revolutionärer Restrukturierung der Gesellschaft. So sah der bedeutende Historiker der Kabbala38 , Gershom Scholem, nicht im Zionismus, sondern im Anarchismus die messianische Utopie. »Es liegt«, so schrieb er 1963 in seinem lesenswerten Essay »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum«, »in der Natur der messianischen Utopie ein anarchisches Element, die Auflösung alter Bindungen, die in dem neuen Zusammenhang der messianischen Freiheit ihren alten Sinn verlieren.«39
Grundsätzliche Übereinstimmung zwischen jüdischem Messianismus und libertärer Utopie ergibt sich etwa hinsichtlich der »Vernichtung der weltlichen Macht.«40 Im Buch Jeschajahu [Jesaja] 14, 5-6, heißt es hierzu: »Zersplittert hat ER den Stecken der Frevler, / den Stab der Zwingherrn (sprich: Tyrannen – d. A.), / der Völker schlug im Überwallen, / unablässigen Schlags, / schaltete im Zorn mit den Stämmen, / ein Hetzen ohne Einhalt.«41
Was in diesem Zusammenhang als »anarchischer Messianismus« (Gershom Scholem) bezeichnet wird, meint ein aus dem Talmud42 und der Kabbala stammendes Verständnis der Ankunft des Messias43 als Befreiung von Knechtschaft und die »Aufhebung sämtlicher Einschränkungen und Verbote, welche die Tora44 den Juden bis zu diesem Zeitpunkt auferlegte. Im messianischen Zeitalter verliert die überlieferte Tora ihre Gültigkeit. Sie wird abgelöst von einem neuen Gesetz, der ›Tora der Erlösung‹, die keine Verbote mehr kennt. In einer neuen, paradiesischen Welt ist die Macht des Bösen gebrochen und der Baum des Lebens wird zum beherrschenden Symbol.«45
Hinzu kommt, dass das messianische Zeitalter wie auch die libertäre Utopie keineswegs im Jenseits angelegt sind, sondern in der bestehenden Welt. Martin Buber etwa sah die Ankunft des Messias da, wo »Vergangenheit und Zukunft, das Ende der Zeit und die Geschichte miteinander verbunden sind… Es hat die Form der absoluten Vergangenheit und trägt den Keim der absoluten Zukunft.«46 Im Zentrum dieses aktiven Messianismus steht die Hoffnung auf die gestaltende Kraft selbstbewusster Menschen, um zur Befreiung aller zu gelangen. Das Ziel ist nicht die Befreiung des Judentums allein, sondern, »die Erlösung der Welt, und die Emanzipation eines einzelnen Volkes (des jüdischen – d.A.), ist nur ein Zeichen auf dem Weg zur Emanzipation der ganzen Welt.«47 Die Übereinstimmungen zwischen jüdischem Messianismus und libertärer Utopie sind sowohl inhaltlich als auch sprachlich evident.
Diese einzigartige Synthese von sozialem Engagement und Messianismus, von Politik und Glauben, hebt nicht nur den Gegensatz zwischen Religion und Atheismus, Rationalismus und Spiritualität auf, sondern eröffnet zugleich einen erweiterten, zivilisations- und fortschrittskritischen »Blick auf die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.«48 Möglich wird die »Öffnung des historischen Feldes für das Neue der Utopie, die sich nicht mehr auf mechanische, repetitive, quantitative Akkumulation reduzieren lässt«49
VIII.
Die produktivste Begegnung zwischen Judentum und Anarchismus fand in Osteuropa statt, dem Zentrum jiddischer Kultur: dort, wo Juden und Jüdinnen gezwungen waren, unter der zaristischen Herrschaft zu leben. Weiter entwickelt hat sich die Verbindung zwischen jüdischer Tradition und libertärer Utopie vor allem infolge millionenfacher Emigration osteuropäischer Juden und Jüdinnen nach England, Lateinamerika, in die USA und nach Palästina. Zu erwähnen sind hier für die erste Generation Emma Goldman, Milly Witkop und die Brüder Max und Siegfried Nacht. (siehe Biographie über die beiden von Werner Portmann, die zusätzlich zur vorliegenden Publikation im Frühjahr 2007 im gleichen Verlag erscheinen wird.)
In der jüdischen ArbeiterInnenbewegung engagierten sich viele junge AnarchistInnen. Sozialisiert in einem religiösen Elternhaus, gehörten sie schon bald zu den EnthusiastInnen einer revolutionären Utopie, die sich die Aufhebung von Herrschaft und gesellschaftlichen Zwängen auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Zugleich repräsentierten sie einen sozialrevolutionären Radikalismus, der mit seiner Verheißung einer Befreiung aller Juden und Jüdinnen wie auch der gesamten Menschheit durchaus Parallelen im jüdischen Glauben aufwies, z.B. hinsichtlich der Erwartung des Messias. So heißt es in der Hebräischen Bibel: »Denn, wohlan, ich schaffe / den Himmel neu, / die Erde neu, / nicht gedacht wird mehr des Frühern, / nichts steigt im Herzen mehr auf, / sondern entzückt euch, jubelt / fort und fort […]«50Der Glaube an den Messias impliziert die Hoffnung auf Erlösung und ewigen Frieden. Sein Erscheinen am Ende der Tage »bedeutet nicht die Verbesserung der bis zu diesem Zeitpunkt existierenden, sondern die Erschaffung einer völlig anderen Welt.«51 Messianismus ist für den libertären Religions- und Kulturphilosophen Martin Buber die »am tiefsten originale Idee des Judentums.«52 Dieser jüdische Messianismus findet sich vor allem in neuzeitlichen anarchistischen Bewegungen wieder. Auch dort wird nicht nur von der Möglichkeit einer Verbesserung der bestehenden Welt ausgegangen, sondern vielmehr beabsichtigt ist die Entfaltung völlig neuer gesellschaftlicher und persönlicher Arrangements im Verhältnis der Menschen untereinander und zur Natur.
Grundsätzlich lehnten jüdische AnarchistInnen das autoritäre Monopol der religiösen Orthodoxie und anfänglich zumeist auch die jüdischen Traditionen ab. Jedoch aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem Antisemitismus entdeckten sie innerhalb der anarchistischen Bewegung ihre jüdisch-kulturellen Wurzeln, z.B. das mosaische Gerechtigkeits-, Gleichheits- und Nächstenliebegebot.
So engagierten sich einige jüdische Libertäre in der nationalen Bewegung für eine Rückkehr nach Erez Israel, woraus ein anhaltendes Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch auf Internationalismus bzw. Antinationalismus und der Rückbesinnung auf jüdische Kultur resultierte. Der Zionismus bedeutete keine Abkehr von Judentum, sondern wurde verstanden als ein neuer Weg zum authentischen, gelebten Judentum. Unbestritten ist, dass die zionistische Bewegung, deren AnhängerInnen eher aus Ost- als aus Westeuropa kamen, am Ausgang des 19. Jahrhunderts entstand, weil die nichtjüdischen Bevölkerungsmehrheiten die Existenz des Judentums nicht akzeptierten und antisemitisch agierten – unabhängig von sämtlichen Akkulturations- und Assimilationsbemühungen der jüdischen Gemeinden. Zugleich entwickelte sich der Zionismus in Ost- und Westeuropa noch aus weiteren, unterschiedlichen Motiven. Der Zionismus in Osteuropa erklärt sich, neben der Reaktion auf den pogromistischen Antisemitismus besonders seit den 1880er Jahren, gewissermaßen als Flucht vor der Orthodoxie und als Möglichkeit die eigene Situation zu verändern, »ohne dabei auf die Assimilation zurückgreifen zu müssen.«53 Orthodoxie und Assimilation sollten gleichermaßen abgewehrt werden, das Judentum sollte sich erneuern. Weil im osteuropäischen Zionismus der Bezug zur religiösen Tradition bewahrt blieb, entwickelte er sich strenggläubiger und spiritueller als derjenige in Westeuropa.
Die zionistische Bewegung in Westeuropa dagegen stellt sich als eine notwendige und zugleich pragmatische Reaktion auf die Enttäuschungen jüdischer Assimilation dar, die sich angesichts des seit den 1870er Jahren zunehmenden, strukturell ›rassistischen‹ Antisemitismus als gescheitert erwies. Der Kulturzionismus, der Anfang des 20. Jahrhunderts entstand, ging nicht primär vom Antisemitismus aus, sondern von einer innerjüdischen Perspektive, die sich gegen die Assimilation stemmte, die immer auch Angleichung an eine antisemitische Umwelt und damit das Ende des Judentums bedeutete. Diese unter dem Begriff »Jüdische Renaissance«54 zusammengefasste Bewegung richtete sich auf ein kulturell inspiriertes Judentum aus, das zu einem grundlegenden jüdischen Selbstverständnis führen sollte. Die westeuropäischen KulturzionistInnen bemühten sich darum, die einst biblisch-religiös verstandene jüdische ›Auserwähltheit‹ dazu zu nutzen, nicht nur das Judentum, sondern die gesamte Menschheit zu befreien. Genau dieser sozialrevolutionäre Impuls fand sich bei vielen jüdischen AnarchistInnen in Ost- und Westeuropa wieder – wie auch bei den Porträtierten des vorliegenden Bandes.
Hinzu kam, dass die zionistische Bewegung in Osteuropa neben einer eigenen jüdischen Heimstätte in Palästina vor allem die nationale Gleichberechtigung für die Jüdinnen und Juden in ihren Herkunftsländern anstrebte. Während also der Kreis derjenigen, die sich für Palästina entschieden, überschaubar blieb, fand die Idee, »eine Lösung in dem Land zu finden, in dem man lebte, sich hier als autonome Gemeinschaft zu formieren, die Gleichberechtigung mit anderen Ethnien zu erlangen und gemeinsam eine angemessene Staats- und Gesellschaftsform aufzubauen«55, deutlich mehr Resonanz, wie sich an der Entstehung nationaljüdischer Organisationen sowie in jüdisch-autonomistischen Zusammenschlüssen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung, »die über den Klassenkampf letztlich eine internationalistische Lösung auch der ›Judenfrage‹ anstrebten«56, zeigen lässt.
Die Mehrheit der jüdischen AnarchistInnen propagierte einen konsequenten Antinationalismus. Ihnen ging es mehr um neue, nichtherrschaftliche Arrangements des Zusammenlebens als um die Frage eines neuen staatlichen Gemeinwesens. Erez Israel stand offenkundig nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit; ihr politisches Handeln bezog sich vielmehr auf grundlegende gesellschaftliche Veränderungen in ihren Herkunftsländern.
Weniger führten Kollektiv- und Selbstverwaltungserfahrungen Juden und Jüdinnen an die anarchistischen Ideen freiwilliger Assoziation, an Föderalismus und Autonomie heran als vielmehr die ethischen Grundlagen des Judentums und das messianische Denken. Radikales Denken in der Moderne mit seinen eschatologischen Aspirationen einer freieren und menschlicheren Zukunft – genau diese Voraussetzungen ermöglichten es nicht wenigen Jüdinnen und Juden, mit dem Anarchismus zu sympathisieren. Trotz ihrer säkularen Ausrichtung diente ihnen die Spiritualität im Judentum, vor allem der Messianismus, als ein Impuls, um für Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit, um für die revolutionäre Erlösung der Menschheit einzutreten.
Judentum und Anarchismus begegneten sich produktiv in Palästina, vor allem in der Kibbuz-Bewegung.57 Die genossenschaftliche Siedlungsbewegung in Palästina/Israel, die auf dem »Kollektiveigentum an Land und Produktionsmitteln, gemeinsame[r] Arbeit, gegenseitige[r] Hilfe, soziale[r] Gleichheit, lokale[r] Autonomie und direkte[r] Demokratie«58 basiert, gehört ebenso zu den zumindest anfänglich weitgehend eingelösten ›Verheißungen‹ libertären Denkens, wie auch die anarchistischen Kollektive während des Spanischen Bürgerkrieges von 1936 bis 1939. Sowohl die Gründer als auch die MitgliederInnen der Kibbuzim dachten zunächst eher in Kategorien Peter Kropotkins und Martin Bubers als in solchen von Karl Marx, eher anarchistisch als marxistisch.
Die Mehrheit der hier Porträtierten sprach sich für ein assimiliertes Judentum aus, da sie sich weitgehend in die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft akkulturieren wollten; weshalb sich vielfach bei ihren Nachkommen der Bezug zur jüdischen Geschichte und Tradition verlor.
In den USA standen sich lange zwei jüdische Anarchismen gegenüber: jüdische AnarchistInnen, die ihr Judentum für die Assimilation ›opferten‹ und solche, die sich explizit auf ihre jüdische Kultur beriefen und auf ihr aufbauen wollten, wie z. B. die Herausgeber der »Freien Arbeiter Stimme«, der bedeutendsten jiddisch-anarchistischen Zeitung in den Vereinigten Staaten. Trotzdem bezogen beide ›Richtungen‹ ihre anarchistische Überzeugung nicht zuletzt aus der universalistischen Ethik des Judentums. Anarchismus und Judentum ermöglichte so eine doppelte Identität, insbesondere bei säkularisierten AktivistInnen, wie etwa beim Schriftsteller Paul Goodman (1911-1972), der sich zugleich als Anarchist, Jude und Homosexueller verstand. Judentum und Anarchismus begegneten sich darum ebenso produktiv in der Frauenbewegung, die sich auf den Anarchafeminismus von Jüdinnen wie Emma Goldmann oder Milly Witkop beruft sowie auf weiteren Gebieten, die noch zu untersuchen wären.
IX.
Vor allem für einen der bedeutendsten deutschsprachigen Libertären, Gustav Landauer, der seinen kommunitären Anarchismus nicht zuletzt aus dem Judentum schöpfte59, bestanden zwischen freiheitlichem Sozialismus und Judentum unvergängliche Affinitäten. Die ›Wiederherstellung‹ der Menschheit ermögliche es dem Judentum, endlich inmitten der Menschheit Platz zu nehmen. Gustav Landauer hat viele jüdische Intellektuelle und SchriftstellerInnen seiner Zeit maßgeblich beeinflusst, darunter Martin Buber, Hans Kohn, Leo Löwenthal, Erich Mühsam, Manès Sperber, Gershom Scholem, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Margarete Susman, Ernst Toller sowie die zionistisch-sozialistische Jugendbewegung, den Kreis Bar-Kochba in Prag und die Gruppe um Martin Buber und seine Zeitschrift «Der Jude« – sowie einige der hier im Buch Porträtierten (Robert Bodanzky, Cilla Itschner-Stamm und Isak Aufseher, aber auch im weitesten Sinne Carl Einstein).
Judentum galt Gustav Landauer, wie auch seinem Freund Martin Buber, als ›Menschentum‹: sich nämlich uneingeschränkt auf die Seite der Unterdrückten, Erniedrigten, Vergessenen und »Besiegten«60 zu stellen. Unter Menschheit verstand Landauer einen »Bund des Vielfältigen«61. Der Bund habe die Aufgabe, die Juden und Jüdinnen mit der Menschheit zusammenzuführen, um alle Menschen zu befreien. Er erkannte, dass dem Bund-Begriff der Hebräischen Bibel eine zentrale Bedeutung in sämtlichen revolutionär egalitären Bewegungen bis in die Neuzeit zufiel.
Was es Libertären vor allem in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ermöglichte, den jüdischen Messianismus in ihr anarchistisches Weltbild zu integrieren, betraf also dessen revolutionäres Potential. So interpretierte Gustav Landauer Geschichte62 nicht als kontinuierlichen Fortschritt der Menschheit, sondern als Pendelbewegung zwischen ›Topie‹ und ›Utopie‹: »Wir haben es hier mit einer qualitativen Differenzierung von Zeit zu tun, in der sinnerfüllte oder sinnentleerte Epochen scharf voneinander abgegrenzt sind. Jede Möglichkeit von Fortschritt oder Evolution wird bestritten, und die Revolution erfolgt als Eingriff in die Welt.«63 Die Erschaffung einer völlig anderen Welt, im Judentum mit dem Erscheinen des Messias verbunden, ist »allgemein, universell und radikal.«64
X.
Was sich die beiden Autoren des vorliegenden Bandes wünschen, ist eine weitere inhaltliche Beschäftigung zum Thema Judentum – ArbeiterInnenbewegung – Anarchismus. Hierzu sollen das in der vorliegenden Einleitung entwickelte Konzept und die hier Porträtierten ein erster Anfang sein. Sowohl die ArbeiterInnenbewegung als auch die libertäre Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts haben dem im Judentum verankerten Gerechtigkeits- und Freiheitsimpulsen viel zu verdanken.
Zu diskutieren wäre, ob an die historische Verbindung zwischen Judentum und Anarchismus in der Zeit des ausgehenden 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, für freiheitlich-politisches Handeln angeknüpft werden kann. Wir sind uns bewusst, dass vor allem infolge des eliminatorischen Antisemitismus des Nationalsozialismus in der Shoa dem osteuropäischen Judentum als kulturelle Lebensform ein jähes Ende bereitet wurde. Trotz (und gerade wegen) des mit dem Namen ›Auschwitz‹ verbundenen Menschheitsverbrechen sollten wir darüber nachdenken, ob die produktive Synthese von Anarchismus und Judentum mehr ist als nur noch ein historisch bedeutsames Ereignis oder ob sich daraus wichtige Erkenntnisse für aktuelle libertäre Aktivitäten ableiten lassen.
Die Autoren sind sich darin einig, dass diese Fragen einfacher gestellt sind als sie sich vermutlich beantworten lassen. Aber daran weiterzuarbeiten lohnt sich allemal. Dazu will der vorliegende Band ermuntern und einige Grundlagen liefern.
Frankfurt/Main, Zürich, 2006
Werner Portmann, Siegbert Wolf
Anmerkungen
1 Michael Löwy, Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft. Berlin 1997 [ND Berlin 2002], S. 12.
2 Nathan Weinstock, Le pain de misère. Histoire du mouvement ouvrier juif en Europe. 3 Bde. Paris 1984-1986. Bd 1: L’Empire Russe jusqu’en 1914.
3 Unter dem Begriff ›jüdische Lebenswelt‹ soll kein separierter Lebensbereich verstanden werden, sondern es sind die »kontinuierlichen Veränderungsprozesse« ebenso hervorzuheben wie »eine kontinuierliche gegenseitige Durchdringung von jüdischen und gentilen Lebenswelten«. (Frank Golczewski, Jüdische Welten in Osteuropa? In: Annelore Engel-Braunschmidt, Eckhard Hübner (Hrsg.), Jüdische Welten in Osteuropa. Ffm 2005, S. 13ff. [hier: S. 27f.]
4 Als politischer Begriff kommt ›Mitteleuropa‹ Mitte des 19. Jahrhunderts auf, als der Gegner des Bismarckschen Deutschen Reichs von 1871, Constantin Frantz, für eine Föderation ›Mitteleuropa‹ aus Deutschland, Polen und Donauslawen eintrat. Die Nationalliberalen, z.B. Friedrich List und Heinrich von Gagern forderten damals ein Mitteleuropa unter deutsch-österreichischer Dominanz. 1915 veröffentliche der nationalsoziale Politiker Friedrich Naumann sein Buch ›Mitteleuropa‹, in dem er einen Staatenbund unter Deutschlands Führung vorschlug. Die Nationalsozialisten instrumentalisierten diesen Begriff für ihre großdeutschen Machtansprüche. Nach dem Ende des Kalten Krieges diente ›Mitteleuropa‹ insbesondere Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei, nach dem Zerfall Jugoslawiens auch Slowenien und Kroatien, als identitätsstiftend. Selbst in der osteuropäischen DissidentInnenbewegung vor 1989 findet der Begriff als multikulturelle Alternative »gegen die homogenisierenden Tendenzen des sowjetischen Imperiums, des sogenannten Ostblocks«, Eingang unter intellektuellen Regimegegnern (z. B. bei Milan Kundera). (Vgl. Vorwort. In: Hans Henning Hahn, Jens Stüben (Hrsg.), Jüdische Autoren Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert. Ffm u.a. 2002, 2. Aufl., S. 7)
5 Osteuropa: Russland, Ukraine, Weißrussland, Lettland, Estland, Litauen, Polen, Rumänien und den Balkan. Und West-/Nord- und Südeuropa: Frankreich, die Niederlande, Belgien, Großbritannien und Irland, Skandinavien sowie die Iberische Halbinsel und Italien (Zu dieser Einteilung siehe: Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. Hrsg. von Elke-Vera Kotowski, Julius H. Schoeps und Hiltrud Wallenborn. 2 Bde. Darmstadt 2001, Bd 1: Länder und Regionen)
6 Vorbemerkung der Hrsg. in: ebd. S. 11. [Anm. 5]
7 Michael Löwy, Erlösung und Utopie, S. 9.
8 Heiko Haumann, Auf dem Weg zu neuen Selbstverständnissen: Ostjuden im 19. Jahrhundert. In: ders. (Hrsg.), Luftmenschen und rebellische Töchter. Zum Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 336 A 85; Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918-1933. Hamburg 1986, S. 11ff.
9 Hierzu: Neues Lexikon des Judentums. Hrsg. von Julius H. Schoeps. Überarb. Auflage. Gütersloh 2000, S. 130.
10 Trude Maurer, Die Wahrnehmung der Ostjuden in Deutschland 1910-1933. In: LBI Information, Nr. 7, 1997, S. 67ff. [hier: S. 68] Definitorisch beziehen wir uns hier auf die entsprechenden Studien von Trude Maurer über die Ostjuden. [Anm. 8]
11 Ein Blick auf die jüdische Berufsstruktur in Deutschland während des wilhelminischen Kaiserreiches zeigt auf, dass der Handel trotz leichtem Rückgang der mit Abstand wichtigste Berufzweig blieb, während sich innerhalb der nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung eine Transformation vom Agrarsektor zum Gewerbe und zur Industrie vollzog. (Vgl. hierzu die prozentuale Verteilung der jüdischen Erwerbstätigen im Vergleich mit der Gesamtbevölkerung: Monika Richarz, Berufliche und soziale Struktur. In: Steven M. Lowenstein, Paul Mendes-Flohr, Peter Pulzer und Monika Richarz, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd 3: 1871-1918. München 1997. Taschenbuchausgabe ebd. 2000, S. 39ff. [Graphik, S. 41] Da den meisten jüdischen Akademikern Berufe wie Lehrer, Professoren oder Richter infolge des Antisemitismus nach wie vor kaum offen standen, betätigten sie sich damals in den freien Berufen als Ärzte, Anwälte, Journalisten und Publizisten. Im Gewerbe und in der Industrie arbeiteten 1907 schon über ein Viertel aller Juden (63.000). Abweichend davon lebten die Landjuden weiterhin fast ausschließlich von Geld- und Warenhandel (Agrarprodukte). Auch die immigrierten Jüdinnen und Juden unterschieden sich vom Durchschnitt der deutschen Juden etwa hinsichtlich einer wesentlich höheren Beschäftigungsrate und einem größeren Anteil von Handwerkern und ArbeiterInnen (Ebd. S. 44f.). Grundsätzlich ähnelte sich die berufliche Gliederung der Juden in Deutschland und in Österreich z.B. bei den freien Berufe oder im Handel. Auch in Österreich lag ihr Anteil am Gewerbe und an der Industrie unter dem der Gesamtbevölkerung. Zugleich glich die Berufsstruktur der Juden in Österreich »in mancher Hinsicht« derjenigen »ausländischer Juden in Deutschland, kamen diese doch zu einem nicht geringen Teil aus dem zu Österreich gehörenden Galizien.« (ebd. S. 45) Daraus resultierte seitens der immigrierten osteuropäischen Juden und Jüdinnen ein niedrigerer sozialer Status und ein höherer Prozentsatz von ArbeiterInnen, TagelöhnerInnen, DienstbotInnen und Pächtern in der Landwirtschaft als im gleichen Zeitraum in Deutschland (ebd. S. 46).
12 In der Schweiz verzögerte sich die Verstädterung der Juden und Jüdinnen und das Landjudentum spielte dort lange Zeit eine bedeutende Rolle. Obwohl 1866 formal gleichberechtigt, erhielten z.B. die »autochonen« Juden des Aargau erst 1879 das Ortsbürgerrecht verliehen. Bedeutende städtische jüdischen Gemeinden entstanden in den 1860er Jahren: Zürich 1862, St. Gallen 1863, Luzern 1867, Lausanne 1868. (Uri R. Kaufmann, Die Schweiz. In: Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. Bd 1, S. 95)
13 Willy Guggenheim (Hrsg.), Juden in der Schweiz. Glaube – Geschichte – Gegenwart. Küsnacht, Zürich 1982, S. 58. Lebten 1850 3.000 Juden und Jüdinnen in der Schweiz, stieg deren EinwohnerInnenzahl bis 1914 auf 20.000 Personen an. (ebd. S. 57)
14 Ebd. S. 64.
15 Trude Maurer, Wahrnehmung, S. 69.
16 Neues Lexikon des Judentums, S. 631; Monika Richarz, Die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung. In: Steven M. Lowenstein, Paul Mendes-Flohr, Peter Pulzer und Monika Richarz, Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd 3: 1871-1918, München 1997, S. 13ff. [hier: S. 23]
17 Bis zum Jahre 1910 hatten sich in Deutschland über 70.000 osteuropäische Jüdinnen und Juden niedergelassen. (Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland, S. 47, 65, 72; S[halom] Adler-Rudel, Ostjuden in Deutschland, 1880-1940. Tübingen 1959, S. 164) Auch während und nach dem Ersten Weltkrieg bestätigte sich dieser Trend: Zwischen 1914 und 1921 blieben von 100.000 in Deutschland eingewanderten Ostjuden ca. 60.000 im Land (ebd. S. 65); 1933 lebten über 88.000 Ostjuden in Deutschland (ebd. S. 72). Auch: Steven E. Aschheim, Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness 1800-1923. Madison 1982, S. 37.
18 Françoise Guesnet, Juden aus dem östlichen Europa in Mittel- und Westeuropa. In: Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Bd II, S. 69ff. [hier: S. 72]
19 Ebd. S. 72.
20 Patrick Kury, »…die Stilverderber, die Juden aus Galizien, Polen, Ungarn und Russland… Überhaupt die Juden.« Ostjudenfeindschaft und die Erstarkung des Antisemitismus. In: Aram Mattioli (Hrsg.), Antisemitismus in der Schweiz 1848-1960. Zürich 1998, S. 423ff. [hier: S. 427]; grundlegend: Karin Huser Bugmann, Schtetl an der Sihl. Einwanderung, Leben und Alltag der Ostjuden in Zürich 1880-1939. Zürich 1998.
21 Uri R. Kaufman, Die Schweiz. In: Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. Bd 1, S. 96.
22 Teresa Andlauer stellt für Galizien fest, dass das jüdische Handwerk sporadisch »sogar noch stärker vertreten war als der Handel« und dass sich erst im 19. Jahrhundert eine Tendenz zum Übergewicht des Handels entwickelt hätte. (Teresa Andlauer, Die jüdische Bevölkerung im Modernisierungsprozess Galiziens (1867-1914). Ffm u.a. 2001, S., 72) Ursprünglich war die Mehrheit der Juden in irgendeinem Handwerk (oder im Kleinhandel) tätig. Behördliche Maßnahmen sowie die rasche Industrialisierung führten dann aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu gigantischen Umstrukturierungen der sozioökonomischen Verhältnisse, wodurch viele traditionelle Handwerkerberufe einen dramatischen Bedeutungsverlust erlitten. Damit einher ging eine galoppierende Verarmung weiter Teile der jüdischen Bevölkerung, so dass oftmals nur der Kleinhandel bzw. die Proletarisierung in den sich entwickelnden Industriezentren (Warschau, Lodz, Kiew usw.) übrig blieb. Die sich verschärfende Armut und materielle Not schufen das »Luftmenschen« genannte Phänomen, Juden ohne festen Beruf und regelmäßiges Einkommen.
23 Claudia Sonino, Exil, Diaspora, Gelobtes Land? Deutsche Juden blicken nach Osten. Berlin 2002, S. 11.
24 Traude Maurer, Ostjuden in Deutschland, S. 767f.
25 Hierzu für Deutschland: Inka Bertz, »Eine neue Kunst für ein altes Volk«. Die Jüdische Renaissance in Berlin 1900 bis 1924. Berlin 1991, S. 37.
26 Michael Löwy, Erlösung und Utopie, S. 40ff.
27 Gustav Landauer, Ostjuden und Deutsches Reich. In: Der Jude, 1. Jg., 1916/17, H. 7, Oktober, S. 433ff.
28 Hierzu: Heiko Haumann, Kommunikation im Schtetl. Eine Annäherung an jüdisches Leben in Osteuropa zwischen 1850 und 1930. In: Wege der Kommunikation in der Geschichte Osteuropas. Hrsg. von Nada Boškovska, Peter Collmer, Seraina Gilly, Rudolf Mumenthaler und Christophe v. Werdt. Köln, Weimar, Wien 2002, S. 323ff.
29 Siehe hierzu die Beschreibung von Saul Landau, Unter jüdischen Proletariern. In: Martin Pollack, Galizien: eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina. Ffm 2001, S. 125 ff.
30 Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden. München 1990, S. 104; auch Bernard D. Weinryb, Neueste Wirtschaftsgeschichte der Juden in Russland und Polen. Von der 1. polnischen Teilung bis zum Tode Alexanders II. (1772 bis 1881). Hildesheim, New York, 2. Aufl. 1972.
31 Hierzu für Galizien: Teresa Andlauer, Die jüdische Bevölkerung im Modernisierungsprozess Galiziens (1867-1914). Ffm u.a. 2001, S. 89ff.
32 Abkürzung für »Allgemeyner Yidischer Arbeter Bund in Lite, Polyn un Rusland«. Erste jüdische sozialistische Partei, 1897 in Wilna gegründet. Der Bund trat ein für soziale und nationale Gleichheit der jüdischen Bevölkerung sowie für die Anerkennung des Jiddischen als Nationalsprache. Zugleich wandte er sich gegen den Zionismus.
33 Monika Richarz, Berufliche und soziale Struktur. In: Ebd. S. 54.
34 Ebd. S. 51. Zu erinnern ist hier an die Brüder Hermann und Leonhard Tietz und an die Brüder Wertheim.
35 Ebd. S. 68.
36 Hierzu: Siegbert Wolf, »Anarchists and Jews – A Story of an Encounter«. Bericht von der internationalen Studienkonferenz vom 5.-7. Mai 2000 in Venedig. In: Im Gespräch. Hefte der Martin Buber-Gesellschaft, H. 1, 2000, S. 8ff.
37 Vgl. hierzu den informativen Ausstellungskatalog von Beth Hatefutsoth, The Nahum Goldmann Museum of the Jewish Diaspora Tel Aviv: Workers and Revolutionaries. The Jewish Labor Movement. Hrsg. von Tamar Manor-Friedman. Tel Aviv 1994 (dt. Übersetzung: Arbeiter und Revolutionäre. Die jüdische Arbeiterbewegung. Hrsg. vom Museum der Arbeit in Hamburg. Hamburg 1998. Darin finden sich Beiträge über die jüdische ArbeiterInnenbewegung in Osteuropa, in Großbritannien und den USA, allerdings ohne die anarchistische Geschichte zu berücksichtigen.
38 hebräisch »Überlieferung«, jüdische Mystik und Geheimlehre seit dem 12. Jahrhundert.
39 In: Judaica I. Ffm 1963, S. 41f.
40 Michael Löwy, Erlösung und Utopie, S. 31; grundlegend: Michael Walzer, Exodus und Revolution. Ffm 1995.
41 Zit. aus: Bücher der Kündung. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. [= Die Schrift, Bd 3] Heidelberg 1985, S. 45f.
42 hebräisch »Lernen«, »Lehre«, »Studium«. Sammlung der Ausführungen, Diskussionen und Kommentare über die gesamte jüdische Tradition sowie Auslegung der Heiligen Schrift.
43 hebräisch »Maschiach« oder »der Gesalbte«. Der Messias tritt in der letzten Phase der Geschichte auf, um den Umbruch der Zeiten anzukündigen. (hierzu: Neues Lexikon des Judentums, S. 564)
44 hebräisch »Lehre, Unterweisung«. Bezeichnung für »die Mose am Sinai übergebene Offenbarung Gottes und die fünf Bücher Mose (Pentateuch)«. (zit. aus: Neues Lexikon des Judentums, S. 813)
45 Michael Löwy, Erlösung und Utopie, S. 32.
46 Martin Buber, Das messianische Mysterium (Jesaja 53). Unveröffentlichter Konferenzbeitrag, 06.04.1925. Martin Buber-Archiv, Jerusalem. (Zit. aus: Michael Löwy, Erlösung und Utopie, S. 71f.)
47 Martin Buber, Das messianische Mysterium. (Zit. aus ebd. S. 79.) Auch beim litauisch-französischen Philosophen Emmanuel Lévinas (1906-1995) findet sich ein Verständnis von Messianismus im Sinne eines weltweiten Zustandes des Friedens und der Gerechtigkeit im hier und jetzt.
48 Michael Löwy, Erlösung und Utopie, S. 269.
49 Ebd. S. 276.
50 Jesaja [Jeschajahu] 65, 17. Zit. aus: Bücher der Kündung. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, S. 205f.
51 Michael Löwy, Erlösung und Utopie, S. 31.
52 Martin Buber, Reden über das Judentum. In: Ders., Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Mit einer Einleitung von Robert Weltsch. Gerlingen, Darmstadt, 2. Auflage 1993, S. 40.
53 Klaus Hödl, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien, Köln, Weimar 1994, S. 107.
54 Martin Buber, Renaissance und Bewegung (1903). In: ders., Der Jude und sein Judentum, S. 265ff.: »Die jüdische Renaissance ist […] mehr als eine Neuknüpfung zerrissener Fäden. Auch sie bedeutet […] nicht eine Rückkehr, sondern eine Wiedergeburt des ganzen Menschen: eine Wiedergeburt, die sich sehr langsam, sehr allmählich von den Tagen der Haskala und des Chassidismus an bis in unsere Zeit vollzieht und weiter vollziehen wird. Langsam und allmählich entsteht ein neuer Judentypus.« (S. 267f.) Buber ging es vor allem auch darum, die wachsende Distanz zwischen ost- und westeuropäischem Judentum durch einen kulturellen Renaissance-Zionismus zu verringern. Das Judentum wollte er in einem ›hebräischen Humanismus‹ zusammenführen und erstrebte eine Erneuerung des Judentums in Richtung auf ein neues gemeinsames Weltgefühl. (hierzu: Martin Buber, Die Erneuerung des Judentums (1911). In: Ebd. S. 27ff.; ders., Hebräischer Humanismus (1941). In: Ebd. S. 717ff.)
55 Heiko Haumann, Auf dem Weg zu neuen Selbstverständnissen, S. 335.
56 Ebd. S. 335. Haumann weist darauf hin, das die Gründung des jüdischen Arbeiter-›Bundes‹ und der Erste Zionistenkongress beide im Jahre 1897 stattfanden.
57 Augustin Souchy, Reise durch die Kibbuzim. Reutlingen 1984; Hans Popper, Die freie organisierte Gemeinschaft des jüdischen Yishuv (Einwohnerschaft) in Palästina. Eine soziologische Analyse. Berlin 1987.
58 Augustin Souchy, Reise durch die Kibbuzim, S. 65. Darin berichtet Souchy von seinen wiederholten Reisen nach Israel in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Dabei betonte er die Ähnlichkeit der sozialistischen Kollektive während des Spanischen Bürgerkriegs 1936-1939 mit den israelischen Kibbuzim.
59 Gustav Landauers Judentum ist an anderer Stelle bereits ausführlich gewürdigt worden und wurde daher im vorliegenden Band nicht aufgenommen. Hierzu: Siegbert Wolf, »…der Geist ist die Gemeinschaft, die Idee ist der Bund«. Gustav Landauers Judentum. In: Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft, H. 21/2002: Erich Mühsam und das Judentum, S. 85ff. Ulrich Linse bezeichnet Landauers Werk als »jüdischen Messianismus anarchistischer Prägung«. In: ders., (Hrsg.), Gustav Landauer und die Revolutionszeit 1918-1919. Die politischen Reden, Schriften, Erlasse und Briefe Landauers aus der November-Revolution 1918/1919. Berlin 1974, S. 28. Auch: Joachim Willems, Religiöser Gehalt des Anarchismus und anarchistischer Gehalt der Religion? Die jüdisch-christlich-atheistische Mystik Gustav Landauers zwischen Meister Eckhart und Martin Buber. Ulm 2001.
60 Hedwig Lachmann, Mit den Besiegten. In: dies., Gesammelte Gedichte. Eigenes und Nachdichtungen. Hrsg. Von Gustav Landauer. Potsdam 1919, S. 98; hierzu auch: Birgit Seemann, Hedwig Landauer-Lachmann. Dichterin, Antimilitaristin, deutsche Jüdin. Ffm, New York 1998.
61 Gustav Landauer, Zum Beilis-Prozess (1913). Aus dem ›Kiew‹ überschriebenen Sonderheft des »Sozialist« vom 05.11.1913; wieder abgedruckt in: Gustav Landauer, Der werdende Mensch, S. 129ff.
62 Gustav Landauer, Die Revolution. Neu herausgegeben, mit einer Einleitung und einem Register versehen von Siegbert Wolf. Münster 2003.
63 Michael Löwy, Erlösung und Utopie, S. 30.
64 Ebd. S. 31.
Zurück zum Titel
Werner Portmann, Siegbert Wolf: „Ja, ich kämpfte“. Von Revolutionsträumen, 'Luftmenschen' und Kindern des Schtetls. Biographien radikaler Jüdinnen und Juden.