AusnahmeZustände
Krise und Zukunft der Demokratie
Beschreibung
Edition Diss Band 15
Normalität ist schwer zu fassen: Sie orientiert sich daran, was innerhalb einer Gesellschaft sagbar ist. Damit ist sie zugleich ständigen Veränderungen ausgesetzt und differiert von Kultur zu Kultur und in der Geschichte. Dennoch lässt sich eine gewisse „common sense“-Definition von Normalität aufspüren, die vor allem dann zum Tragen kommt, wenn es Bruchstellen gibt, wenn ein gesellschaftlicher Zustand als nicht normal, als Ausnahmezustand, empfunden wird. Diese Ausnahmen werden als solche diskursiviert und im Gegenzug wird daran gearbeitet, wieder Normalität herzustellen.
Normalität ist gespalten: Menschen in anderen Ländern fristen eine Existenz, die aus unserer Sicht als nicht normal bezeichnet werden kann. Die Terroranschläge vom 11.09.2001 lösten einen enormen Denormalisierungsschub aus. Ist heute zwar weitgehend durch unterschiedliche Strategien wieder Normalität hergestellt, so ist diese jedoch gleich in mehrfacher Hinsicht gespalten: Vermeintliche Terroristen werden - komplett entrechtet – weggesperrt und Berichte über grausame Folterungen gehen über die Nachrichten-Sender. Die heutige, von Unsicherheit und Angst gekennzeichnete Situation im Irak hat mit dem Anspruch der „Befreiung“, mit dem dieser Krieg geführt wurde, wenig gemein.
Normalität ist auch überaus prekär: Der als Ausnahmezustand benannten Verarmung wird mit neo-sozialdarwinistischer Politik begegnet. Der Diskurs um den demografischen Wandel der Gesellschaft lässt es zu, dass heute vermehrt eugenische Konzepte diskutiert werden, die in die pränatale Diagnostik und Therapie eingreifen, oder dass volkswirtschaftliche Kosten für „Bedrohungen“ der Gesundheit der Bevölkerung, z.B. durch Vogelgrippe, kalkuliert werden. Die Sichtweise auf Einwanderung als Bedrohung statt als Normalfall ethnisiert soziale Probleme – Kulturen und Religionen werden auf Konfrontation gebracht. Welche Auswirkungen hat der weltweite Kampf um die Schlüsselressourcen unserer Erde auf Fragen um Normalität? Die Beiträge in diesem Buch gehen nicht nur solchen Fragen nach, sondern diskutieren auch, mit welchen demokratischen Gegenmodellen man der zurzeit gängigen gesellschaftlichen Praxis um Ausnahmezustände und Normalisierungsversuche begegnen kann.
Aus dem Inhalt:
Susanne Spindler / Iris Tonks
AusnahmeZustände. Krise und Zukunft der Demokratie
Jürgen Link:
Lässt sich der Notstand »normalisieren«? Normalismustheoretische Überlegungen
Jobst Paul:
Biopolitik und die Doktrin der Ausnahme – Analyse und Kritik der ›Angewandten Ethik‹
Dorothee Obermann-Jeschke:
»Zu Risiken und Lebensplanung befrage deinen Arzt und deine Gene« –
Wie historisch angelegtes »Normalisierungswissen« zu einem Selbstmanagement genetischer Risiken anleitet
Susanne Spindler:
Ausschluss aus der gouvernementalen Regierung – Formen und Funktionen rassistischer Exklusion von migrantischen Jugendlichen
Heiko Kauffmann:
Nach Integrationsgipfel und Innenministerkonferenz: Integration auf dem Prüfstand
Mohssen Massarrat:
Motive der Konfliktparteien im Iran-Atomkonflikt. Das Scheitern der EU-Diplomatie und Alternativen zu einem neuen Krieg
Anne Huffschmid:
Interferenzen. Zapatismo als Semiotik des Widerstands?
Ulrich Brieler:
Empire, Phantomstaaten und kommende Demokratie. Analytik der neuen Weltordnung bei Jacques Derrida und Michael Hardt /Antonio Negri
Autor*innen
Susanne Spindler, geboren 1971, Studium der Dipl.-Pädagogik bis 1998, von 1998-2002 Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für interkulturelle Studien, Uni Köln, Bereich Soziologie; davon 3 Jahre im Forschungsprojekt zum Thema der „Überrepräsentation von jugendlichen Migranten in Haft“. Seit 2004 Bildungsreferentin der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW; seit 1999 bis heute diverse Veröffentlichungen sowie Unterrichtsaufträge an der Uni Köln. Redaktionsmitglied der beiträge zur feministischen theorie und praxis, Mitarbeit in migrationspolitischen Zusammenhängen.
Arbeitsschwerpunkte: Migration, Rassismus und Geschlecht.
Iris Tonks, Germanistin und Anglistin. Freie Mitarbeiterin des Duisburger Institutes für Sprach- und Sozialforschung (DISS).
Heiko Kauffmann, Pädagoge und Sozialwissenschaftler, Mitbegründer und Vorstandsmitglied von PRO ASYL und Sprecher von PRO ASYL 1994 bis 2002, Träger des Aachener Friedenspreises 2001, Träger des Deutschen Kinderrechtspreises „Blauer Elefant“ 2001, Arbeitsschwerpunkte: Friedens- und Asylpolitik
Prof. Dr. phil. Jürgen Link ist Literatur- und Kulturwissenschaftler an der Universität Dortmund und Herausgeber der „zeitschrift für angewandte diskurstheorie kultuRRevolution“. Arbeitsschwerpunkte: Angewandte Diskurstheorie, Kollektivsymboltheorie, Theorie des Normalismus. Neueste Veröffentlichungen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 3., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Aufl. 2006, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Jobst Paul ist promovierter Sprach- und Literaturwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Seine Arbeitsschwerpunkte sind die ideologischen Grundlagen westlicher Ausgrenzungskonstrukte. Er veröffentlichte Bücher und zahlreiche Aufsätze zur Ethik, u.a. zum Menschenbild in den Biowissenschaften. 2005/06 leitete er das Forschungsprojekt ›Staat, Nation, Gesellschaft‹, das sich mit den gesellschaftspolitischen Interventionen der deutsch-jüdischen Publizistik im 19. Jahrhundert beschäftigte. Derzeit koordiniert er das Editionsprojekt ›Deutsch-jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft‹.
Dr. Ulrich Brieler, Geschichts- und Erziehungswissenschaftler, Germanist. Lehrbeauftragter an der Universität Leipzig. Referent für Grundsatzfragen Stadtverwaltung Leipzig im Geschäftsbereich des Oberbürgermeisters
Prof. Dr. Mohssen Massarrat, Professor für Politik und Wirtschaft am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück mit den Forschungsschwerpunkten Mittlerer und Naher Osten, Energie, Friedens- und Konfliktforschung, Nord-Süd-Konflikt.
Dorothee Obermann-Jeschke, Dr. phil., Jahrgang 1967, Studium der Biologie, Sozialwissenschaften für Sek. I. / II., zur Zeit freie wissenschaftliche Mitarbeiterin des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung.
Dr. Anne Huffschmid, Volks- und Kulturwissenschaftlerin. Mexiko-Korrespondentin und Autorin.